Überforderung in der Pflege: „Manchmal möchte ich wegrennen…!“
„Gerade habe ich meine Mutter angeschrien. Ich kann nicht mehr! Seid Stunden versuche ich ihr die Tabletten zu geben. Ohne Erfolg!“
Die meisten pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause liebevoll und mit großem Zeitaufwand gepflegt. Aber es gibt auch Situationen von Verzweiflung, Überforderung und Aggressionen. Die extreme Belastung kann dazu führen, dass die eigenen Grenzen bald erreicht sind, Empfindlichkeiten zunehmen und Konflikte bis hin zu starken Auseinandersetzungen stattfinden. Pflegende Ehepartner und pflegende Kinder erleben starke Gefühle, über die sie manchmal selbst erschrocken sind.
Aggressionen und Konflikte in der häuslichen Pflege sind immer noch ein Tabu. Menschen, die nicht mit der Pflege älterer Menschen direkt oder im großen Zusammenhang zu tun haben, können sich oft nicht vorstellen, dass Wut und Groll und durchaus auch körperliche Misshandlungen stattfinden können.
Leid auf beiden Seiten und Schuldgefühle gehören zum Pflegealltag.
Pflege bedeutet immer Beziehung
Die meisten Familien können sich auf die Pflege eines Familienangehörigen nicht vorbereiten. Meist ist auch die Länge einer Pflege nicht absehbar. Durchschnittlich liegt sie in Deutschland bei 9,6 Jahren. Es ist wichtig zu wissen, dass die Familie der größte nationale Pflegedienst ist. Zwei Drittel aller pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause gepflegt. Wir werden auch in Zukunft auf diese familiäre – gesellschaftlich wichtige - Leistung angewiesen sein.
Gewalt in der Pflege wird in erster Linie von nahestehenden Familienmitgliedern ausgeübt, die engen Kontakt zum alten Menschen haben. Pflege ist immer und vor allem Beziehung, ein enger Kontakt, körperlich und auch gefühlsmäßig, oftmals enger, als einem lieb ist. Von der Pflege eines Angehörigen gibt es meist ein Idealbild, das aus dem Bild der guten Tochter, der guten Ehefrau oder des guten Ehemannes erwächst: Sie sollen freundlich, geduldig, einfühlsam und mit viel Zeit pflegen.
Gleichzeitig entstehen immer da, wo Menschen so eng miteinander leben oder arbeiten Konflikte und auch aggressive Gefühle. Daraus können gewalttätige Handlungen folgen.
Aggression ist ein (wichtiges) zutiefst menschliches Gefühl und darf auch sein – auch in der Beziehung zu alten Menschen. Wichtig aber ist der Umgang damit: Der Aggression soll Raum gegeben werden, aber nicht so, dass ihr freier Lauf gelassen wird. Sie ist vielmehr ein wichtiger Hinweis, dass in der Beziehung etwas geklärt werden, nach den möglichen Ursachen und Auslösern gefragt werden muss. „Was macht mich so sauer? Gibt es ‚alte Geschichten’ zwischen uns? Bin ich überfordert? Habe ich Angst vor der Zukunft?“
Solange das Thema in der Öffentlichkeit vor allem unter dem Aspekt der Schuldzuweisung und Strafandrohung diskutiert wird, muss Verdrängung und Vertuschung die Folge bleiben.
In vielen Familien gibt es hohe moralische Erwartungen. Die Pflege der alten Eltern, des Partners oder der Partnerin ist für viele Menschen selbstverständlich, ohne dass die Folgen, die Belastungen und vor allem die Beziehung zwischen der Pflegenden und der Gepflegten in den Blick genommen werden. Manchmal ist es für alle Beteiligten besser – beispielsweise aufgrund einer gemeinsamen schwierigen Geschichte -, dass professionelle Kräfte die Pflege übernehmen. Damit ist häufig ein entspannter aggressionsfreier Kontakt innerhalb der Familie gewährleistet.
„Manchmal kann ich ihn einfach nicht mehr sehen, dann muss ich raus aus der Wohnung und er bleibt lange alleine. Aber genießen kann ich das auch nicht, ich komme dann wieder und will eigentlich schon wieder weg! Ich komme mir vor wie auf der Flucht.“
Persönliches Belastungsgefühl ernst nehmen
Fast alle pflegenden Angehörige beschreiben den Spagat zwischen Zuwendung und Überforderung: einerseits alles zu geben, was für das Wohlbefindens des Angehörigen nötig ist, andererseits ständig an die eigenen Grenzen zu stoßen, sowohl körperlich als auch seelisch. Dabei ist es sehr subjektiv, wie belastend eine Pflege empfunden wird.
Durch die Pflege wird eine große emotionale und körperliche Nähe nötig, die nicht immer von den Pflegenden gewünscht ist. Entsprechend wichtig ist es, persönliche Grenzen ernst zu nehmen. Vor allem sollten in der Pflege die Grenzen der anderen Familienmitglieder akzeptiert werden.
Belastungen der Hauptpflegeperson
- ständiges Angebundensein
- Beziehungsprobleme
- Rollenveränderungen
- starke Abhängigkeit
- körperliche und emotionale Belastung
- der Gedanke, dass es keine Verbesserung gibt
- verlernt haben, abzuschalten
- Leiden der Angehörigen und Angst, sie zu verlieren
- Demenz und Verwirrtheit, die Beziehung verändert sich
- Nähe zum Tod
- keinen Urlaub
- eigene körperliche und seelische Befindlichkeit
- Reduktion sozialer Kontakte
- finanzieller Kontext
eigene physische oder psychische Einschränkung
Gewalt ist oft keine Einbahnstraße
Auch alte pflegebedürftige Menschen sind in der Lage, ihre Angehörigen zu kommandieren, zu schikanieren und durch Verweigerung von Zuwendung zu quälen. Pflegende Angehörige werden mit Einkoten bestraft, wenn sie zu spät kommen, das Essen wird verweigert, und sie werden durch ständiges Jammern, lieber sterben zu wollen, mürbe gemacht. Viele Pflegende erhoffen unbewusst noch auf eine Bestätigung und Anerkennung ihrer Mühen. Das Ausbleiben der Zuwendung in Form von Dankbarkeit wird als bohrende Enttäuschung erlebt und kann eine mögliche Ursache für aggressives Verhalten sein.
Die gemeinsame Beziehungsgeschichte als Ursprung für Konflikte.
Herr Berger hat seinen Vater nach Berlin geholt: „Für meinen Vater konnte ich nie etwas recht machen, ich habe studiert, einen guten Abschluss und eine gute Arbeit, eine nette Frau und einen Sohn, und trotzdem ist es wie immer nie genug…Auch jetzt, obwohl wir ihn in unsere Wohnung aufgenommen haben und rund um die Uhr pflegen, kommt nie ein Wort der Dankbarkeit. Es genügt wieder nicht. Ich habe oft starke Hassgefühle und muss mich beherrschen, dass ich nicht handgreiflich werde!“
Nicht in allen Familien herrscht eine liebevolle und verständnisvolle Atmosphäre. Obwohl sich die meisten Menschen mit ihrer Familie sehr verbunden fühlen, beschreiben sie doch ein mittleres bis hohes Maß an Spannungen. Im Mittelpunkt stehen das Verschweigen von Konflikten und die Qualität der frühen Beziehung. Pflegen in der Familie bzw. in der Ehe bedeutet, dass die gemeinsame Geschichte mit all ihren Kränkungen, Verletzungen und nicht Geklärtem wieder aktualisiert wird. In der Situation wird gemeinsam Erlebtes wieder erinnert.
Frau Meyer, die einen kargen lieblosen Mann hat, empfindet starke Aggressionen. „Ich habe so wenig von ihm bekommen und soll nun wieder geben und geben... Ich habe eine solche Wut, ich würde ihn am liebsten ins Heim geben. Meine letzten Jahre macht er auch noch kaputt.“
Hier können professionelle Gespräche helfen, um ein Stück gemeinsame Geschichte aufzuarbeiten und zu verstehen und um abzuschließen mit alten Wünschen und Hoffnungen.
Wichtig:
Trotz aller kritischen Situationen möchten wir nochmal ausdrücklich betonen, dass in der häuslichen Pflege täglich Enormes geleistet wird. Das können wir nicht genug wertschätzen. Wir möchten die Pflegenden ermuntern, sich Unterstützung in einem vertrauensvollen Gespräch zu suchen. Oft verhindern aggressive Gedanken und Gefühle und den damit verbundenen Schamgefühlen, dass Hilfe in Anspruch genommen wird.
Autorin: Gabriele Tammen-Parr (